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Wie hilft Therapie?

Therapie als Weg aus der inneren Unfreiheit

Nur für Verrückte?


„Ich bin doch nicht gestört! Nur weil ich in letzter Zeit nicht gut drauf bin und öfters mit meinen Kollegen streite", so hört man häufig. „Deswegen muss ich doch nicht gleich zum Therapeuten.“

Ist Psychotherapie nur etwas für Leute mit schwerwiegenden psychischen Problemen? Oder kann man sie auch einfach nutzen, um sich selbst besser zu verstehen? Und um sich von falschen Abhängigkeiten, inneren Zwängen und lähmender Ohnmacht zu befreien und so die persönlichen Lebensmöglichkeiten zu erweitern?

Als Antwort zitiere ich einen Abschnitt aus dem Buch „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“ des Schweizer Philosophen Peter Bieri, der hier auf treffende Weise meine persönliche Auffassung vom Sinn und Nutzen der Psychotherapie beschreibt. Für ihn ist Therapie eine Möglichkeit, die eigene Freiheit und Würde zu stärken.


„Situationen der Unselbständigkeit, der inneren Unfreiheit, Abhängigkeit und Ohnmacht sind Situationen, in denen wir das Gefühl haben, dass unsere Würde verloren geht. Das Bedürfnis nach innerer Selbständigkeit ist mit dem Bedürfnis nach Selbsterkenntnis verknüpft: dem Bedürfnis zu verstehen, warum mein Erleben ist, wie es ist.

Die beiden Bedürfnisse hängen zusammen, weil fehlende innere Selbständigkeit mit dem Eindruck einhergeht: Ich verstehe nicht, warum es diese zwanghaften Gedanken, diese sonderbaren Affekte und diesen widerspenstigen Willen in mir gibt, die ich nicht zu kontrollieren vermag. Wir spüren: Es geht darum, dass wir nicht durchschauen, wie sie in unserer Lebensgeschichte entstanden sind und auf welch vertrackte Weise sie in unsere Gegenwart hineinragen. Nur dieser Art von Verständnis könnte es gelingen, uns die mangelnde Selbständigkeit und die verlorene innere Autorität zurückzugeben.

Dabei kann uns die Einsicht helfen, dass es in unserem Leben viel mehr an Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen, Phantasien und Wünschen gibt, als es den Anschein hat. Wir sind nur mit einem Teil unserer Innenwelt vertraut. Ein anderer Teil liegt im Dunkeln.
Wenn wir ratlos erleben, wie uns unverstandenes Erleben bedrängt, kann der entscheidende Schritt sein, nach seiner Herkunft in den weniger bewussten Bezirken des seelischen Geschehens zu suchen. Es kommt darauf an, denjenigen Unterströmungen des Fühlens, Wünschens und Vorstellens auf die Spur zu kommen, die unser Leben bestimmen, ohne dass wir es wissen. Wenn uns das gelingt, wird aus unbewusstem seelischen Geschehen bewusstes Erleben. Dazu gehören zunehmende Wachheit nach innen, sprachliche Artikulation und lebensgeschichtliches Verstehen, durch das die verborgene Logik und Dynamik verdrängter und zugeschütteter Motive ans Licht kommen. Am Ende kenne ich in mir selbst besser aus. Und es bleibt nicht beim Auskennen. Die wachsende Selbsterkenntnis kann zu befreienden Veränderungen und größerer innerer Selbständigkeit führen. Der zwanghafte Wille und die unverständlichen, unkontrollierbaren Affekte werden, einmal aufgeklärt, besser beherrschbar und lösen sich vielleicht ganz auf. Sie sind überflüssig geworden. Vieles am Erleben, was früher wie ein Fremdkörper erschien, verliert durch das wachsende Verstehen seine Fremdheit und kann in die Person integriert werden. Es kann angeeignet und zu einem ausdrücklichen Teil der seelischen Identität gemacht werden. Und diese Aneignung bedeutet, dass es meine innere Autorität nicht länger bedroht.

Wenn es einem gelingt, den Radius der Selbsterkenntnis nach innen zu vergrößern, verringert sich die Gefahr der Ohnmacht und Demütigung. Ich werde jetzt weniger leicht Opfer von Abhängigkeit, Erpressbarkeit und Hörigkeit. Denn die inneren Zwänge, aus denen die äußere Versklavung hervorging, hatten nur so lange Bestand, als die Triebkräfte im Verborgenen lagen. Wenn ich sie vor mich bringen und im Zusammenhang verstehen kann, schwindet ihre Macht. Ich gewinne meine innere Autorität zurück. Und damit meine Würde."